1/3
Sigrid
St.Paul, München
2019
Lackierte Keramik
je ca. 60 x 60 x 15 cm
Fotos: Johannes Seyerlein

Wie eine Attacke auf die Säulen der Kirche erlebt man den unerwarteten Anblick von ausgelaufenen Tomaten, die in leuchtenden Farben hier und dort bis hin zur Kanzel die Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Die rhythmische Anordnung der zerplatzten Früchte lässt an das Ergebnis einer künstlerischen Performance denken, die man bedauerlicherweise verpasst hat. Wer jemals in Spanien eine Tomatina, so der Name des berühmten Tomatenfestes im Städtchen Buñol erlebt hat, erinnert sich an die Freude der Menschen, während sie sich mit den überreifen Früchten bewerfen.
Für Susanne Wagner ist diese spezifisch ortsbezogene Arbeit ein feministischer Angriff auf die Grundfesten der Kirche, in der Frauen größtenteils unsichtbar sind.
Dafür greift sie zurück auf ein Ereignis, das sich im Herbst 1968 anlässlich einer Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) in Frankfurt abgespielt hat. Obwohl sich der SDS als liberale Linke verstand und der Kampf für eine neue gleichberechtigte Gesellschaft ganz oben auf ihrer Agenda stand, ignorierten sie weitgehendst die Rede der Filmemacherin und Aktivistin Helke Sanders, die als einzige Sprecherin zugelassen wurde. Erbost über die nach wie vor patriarchalischen Strukturen und die offensichtliche Arroganz, mit der die Genossen eine Diskussion verweigerten und ihre Interesselosigkeit demonstrierten, bewarf die im Publikum sitzende Sigrid Rüger den Cheftheoretiker des Studentenbundes mit Tomaten.
Der provokative Tomatenwurf Sigrid Rügers war eine medienwirksame Aktion, die die neue Frauenbewegung einen großen Schritt voranbrachte. „Sigrid“ verweist auf feministische Angriffe mit Signalwirkung, die auf eine geschlechtergerechte Welt abzielten. Zwar hat sich unsere Gesellschaft inzwischen in vielen Bereichen positiv gewandelt, Frauen sind sichtbarer geworden, sowohl in der Politik als auch in beruflichen Positionen. Dennoch gibt es immer noch eine deutliche Lohndiskrepanz zwischen Männern und Frauen, eine erhebliche Mehrbelastung der Frauen durch Haushalt und Kindererziehung, Gewalt gegen Frauen, Benachteiligung von Künstlerinnen auf dem Kunstmarkt.
Mit ihrer Intervention „Sigrid“ erinnert Susanne Wagner an die Aktualität der femi- nistischen Diskussion. Hier wie auch in anderen ihrer Arbeiten, die häufig politische oder sozialkritische Themen behandeln, fehlt es ihr keineswegs an Humor.
Jene humorvoll inszenierten Arbeiten, von denen die meisten als Videoarbeiten entstanden sind, tragen ebenfalls die Vornamen der Protagonisten. Eine andere prominente Position in ihren Videos haben ihre Selbstportraits, in denen sie – nach dem Vorbild einer One-Woman-Band – ihrem inneren Monolog durch Text und Gesang Ausdruck verleiht. BARBARA FISCHER